Gekommen, um zu bleiben
Insurtechs sind eine Bereicherung für die Versicherungsbranche. Die etablierten Anbieter sollten sie weder bekämpfen noch belächeln – sondern von ihnen lernen.
The höher they come, the blöder they fall“, heißt es im Song „Gekommen um zu bleiben“ der Band Wir sind Helden.
Genau diese Zeile scheint auch mancher Versicherungsmanager im Kopf zu haben, wenn er an die Insurtechs denkt, die angetreten sind, digitale Innovation in die verstaubte Welt der Assekuranz zu bringen. Zugegeben: Nicht jedes der gut 150 Versicherungs-Start-ups auf dem deutschen Markt wird Erfolg haben; am Ende schaffen es nur die wenigsten an die Spitze. Aber ist das ein Grund, es nicht zu versuchen? Es würde doch auch niemand sein Kind vom Fußballtraining abmelden, nur weil es wahrscheinlich niemals die Champions League gewinnen wird. Start-ups wie Knip oder Getsurance, einst mit großen Erwartungen gestartet, haben es nicht geschafft. Na und? Der Druck des Markts und der Investoren sorgt für eine gesunde Auslese.
Insurtechs tun der Versicherungswirtschaft in jeder Hinsicht gut. Sie erhöhen den Druck auf die etablierten Anbieter, sich mit den unkonventionellen Ideen der neuen Wettbewerber auseinanderzusetzen und über die Zukunftsfähigkeit der eigenen Geschäftsmodelle nachzudenken. Und sie schaffen ein innovatives Arbeitsumfeld und führen junge Talente an die Branche heran, die sich nie für einen traditionellen Versicherer als Arbeitgeber entschieden hätten. Das Bild, dass alle Insurtechs die bestehenden Anbieter aus dem Markt drängen wollen, ist Unsinn. Die große Mehrzahl der Start-ups setzt auf Kooperationen mit etablierten Versicherern, nur vier Prozent der europäischen Insurtechs bieten als digitaler Vollversicherer die gesamte Wertschöpfungskette an. Die regulatorischen Hürden sind hoch, ebenso die Kosten für die Kundenakquise – neu gegründeten Unternehmen fehlt meist das Kapital, die nötigen Solvenzmittel über mehrere Jahre zu stellen.
Anders ist die Lage in den USA, wo mit Lemonade, Root, Hippo oder Metromile eine ganze Reihe digitaler Vollversicherer inzwischen sogar an der Börse ist. Doch nicht jedes Geschäftsmodell lässt sich auf Deutschland übertragen. Während der private US-Krankenversicherer Oscar im vergangenen Jahr Bruttobeitragseinnahmen von 1,3 Milliarden Dollar erzielte, kam Ottonova in Deutschland nur auf neun Millionen Euro. Die restriktiven Regeln für private Krankenversicherer machen es neuen Anbietern hierzulande schwer, und eine Obamacare Sonderkonjunktur wie in den Vereinigten Staaten gab es auch nicht. Deutschland hinkt der Entwicklung in den USA um etwa drei bis fünf Jahre hinterher. Wenn amerikanische Insurtechs heute an der Börse mit bis zu fünf Milliarden Dollar bewertet werden, sollten wir das ernst nehmen.
Man muss nicht jede dieser Bewertungen vollständig verstehen, aber sie spiegeln das große Vertrauen der Investoren in die Innovationskraft der Insurtechs und die Attraktivität ihrer Geschäftsmodelle. Dass Vergleichbares auch bei uns möglich ist, hat die jüngste Finanzierungsrunde von Wefox gezeigt: Das deutsche Versicherungs-Start-up erhielt mehr als 500 Millionen Euro frisches Kapital, was zu einer Unternehmensbewertung von rund 2,5 Milliarden Euro führte. Für die etablierten Versicherer heißt das, dass sie digitaler, schneller und agiler werden sollten – und die neue Konkurrenz ernst nehmen. Durch Kooperationen mit Insurtechs sollten sie Geschwindigkeitsdefizite in der eigenen Entwicklung adressieren, veraltete IT-Systeme ablösen und verstärkt auf Standardsysteme setzen. Große Plattformen liefern die Schnittstellen zu den digitalen Lösungen der Start-ups häufig bereits mit. Versicherer sollten ihre Geschäftsmodelle ganzheitlich digital denken. Wer dies versäumt, droht seine Kundenschnittstelle zu verlieren und in Abhängigkeit von Aggregatoren wie Check24 zu geraten.
Die Insurtechs sind „gekommen, um zu bleiben“. Etablierte Versicherer, die dies erkennen, können durch Kooperationen auch ihr eigenes Geschäftsmodell zukunftsfest machen.
Zur Person
Torsten Oletzky ist Professor für Versicherungswesen an der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an der Technischen Hochschule Köln. Bis 2015 war der promovierte Betriebswirt Vorstandsvorsitzender der Ergo-Versicherungsgruppe, des zweitgrößten deutschen Erstversicherers.