Was für einen weiteren Anstieg der Lebenserwartung spricht
Die durchschnittliche Lebensdauer ist über Jahrzehnte stark gestiegen. Zuletzt hat sich der Trend aber abgeschwächt. Experten des Rückversicherers Swiss Re gehen dennoch von einem weiteren Zuwachs aus und liefern in einer neuen Studie Gründe dafür.
Die Entwicklung der Lebenserwartung in den Industriestaaten lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten: der langfristigen und der kurzfristigen. Auf lange Sicht ist sie ein großer zivilisatorischer Erfolg. So hat sich die Lebenserwartung etwa in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf inzwischen rund 90 Jahre fast verdoppelt. Auf der kurzen Zeitachse sieht der Trend allerdings nicht mehr so beeindruckend aus. Seit 2010 hat sich der Zugewinn an Lebenszeit in den Industriestaaten verlangsamt, in manchen Ländern ist der Trend sogar leicht rückläufig.
Ungesunder Lebensstil und schlechter Zugang zu medizinischer Versorgung problematisch
„Während die Menschen davon träumen, dass die Lebenserwartung auf über 100 Jahre steigt, sind mittlerweile die Fortschritte in Gefahr, die im letzten Jahrhundert erzielt worden sind“, warnt Paul Murray, Chef der Lebens- und Gesundheitssparte beim Schweizer Rückversicherer Swiss Re. Die Gründe sind vielfältig: Neben Folgeerkrankungen von Fettleibigkeit spielen auch zunehmende Auswirkungen von Alzheimer eine Rolle. Beides gesundheitliche Probleme, die häufig Folge eines schlechten Lebensstils sind – von zu wenig Bewegung oder ungesundem Essen. Problematisch ist auch der ungleiche Zugang zu medizinischer Versorgung, beispielsweise in den USA. Dort spielen noch andere Faktoren für den Rückgang der Lebenserwartung eine Rolle, allen voran die Opioidkrise, aber auch die vielen Gewaltdelikte.
Trotz der aktuellen Stagnation sind die Experten von Swiss Re optimistisch, dass die Lebenserwartung in Zukunft weiter anwachsen wird. „Medizinische Technologie, Veränderungen der Lebensweise und der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung werden die nächste Welle von Verbesserungen zur Steigerung der Lebenserwartung vorantreiben“, betont Murrays Kollegin Natalie Kelly in einer neuer Studie. Schon in der Vergangenheit sei die Lebenserwartung meist in Wellen angestiegen, beispielsweise nach medizinischen Durchbrüchen wie bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder ausgelöst durch gesellschaftliche Trends, etwa den Rückgang des Rauchens.
Neue Behandlungsmethoden erwartet
Große Hoffnungen setzt Swiss Re vor allem auf neue Behandlungsmethoden. „Treibende Kraft für die nächste große Welle von Verbesserungen zur Steigerung der Lebenserwartung ist klar die medizinische Forschung“, sagt Murray. Neue Therapien gegen Krebs oder typische Alterserkrankungen wie Alzheimer und andere Demenzformen könnten die Lebenszeit noch ausweiten. Die Chancen stehen gut: Mit Flüssigbiopsien – also Blutproben – lassen sich beispielsweise bestimmte Krebsarten inzwischen früher erkennen. Hoffnung machen ebenso neue mRNA-Impfstoffe, wie sie während der Covid-19-Pandemie erfolgreich genutzt wurden. Aktuell nähren auch die Studien-Ergebnisse eines neuen Alzheimer-Medikaments des US-Pharmakonzerns Eli Lilly die Zuversicht, dass sich der Krankheitsverlauf erheblich verlangsamen lässt.
Doch auch bei der Prävention ist das Potenzial längst nicht ausgeschöpft. Das gilt insbesondere für Deutschland, wie unlängst eine gemeinsame Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock ergab. Demnach ist die im europäischen Vergleich niedrige Lebenserwartung in Deutschland auf eine erhöhte Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen, die als weitgehend vermeidbar gelten. Die Forscher vermuten, dass in Deutschland zu wenig Vorsorge betrieben wird und zu späte Diagnosen erfolgreiche Behandlungen erschweren.
Ein Verdacht, den Dr. Harald Hausmann nur bestätigen kann. „Sehr viele Menschen tun sich sehr, sehr schwer damit, durch konsequente Vorsorge aktiv ihre Gesundheit zu verbessern“, sagt der ärztliche Direktor des Midiclin Herzzentrums in Coswig bei Dresden. Er sieht die Verantwortung bei den Patienten selbst: Lebensstilfaktoren wie schlechte Ernährung, wenig Bewegung und Rauchen provozieren regelrecht derartige Erkrankungen.
Politischer Handlungsbedarf
Hilfe benötigt vor allem der Teil der Bevölkerung mit der geringsten Lebenserwartung. Das sind zumeist Menschen mit geringerem sozialen Status, die einerseits aufgrund ihres Einkommens und Berufssituation größeren Stressfaktoren ausgesetzt sind, die häufig aber auch einen ungesünderen Lebensstil pflegen und seltener Präventionsangebote nutzen. „In Wahrheit ist die Bereitschaft zur Gesundheitsvorsorge leider gerade bei Menschen mit hohem Risikoprofil eher gering“, bemängelt Herzchirurg Hausmann. Mehr Eigeninitiative in Sachen Sport und gesunder Lebensstil sowie politische Maßnahmen sind jedoch zur Steigerung der Lebenserwartung essenziell. Immerhin: Die Bundesregierung hat den Handlungsbedarf erkannt und im Koalitionsvertrag mehr Maßnahmen zur Verbesserung der Krankheitsprävention verankert.
Daneben verspricht der Einsatz neuer Technologien einen weiteren Zuwachs an Lebenszeit. Vor allem Künstliche Intelligenz birgt große Chancen, nicht nur in der medizinischen Forschung, sondern auch bei der Diagnose und frühzeitigen Behandlung von Krankheiten. So kann ein Computer Auffälligkeiten in Röntgen- oder MRT-Aufnahmen viel besser erkennen als ein Arzt. Auch Wearables oder Gesundheits-Apps für den privaten Gebrauch können Menschen zu einer gesünderen Lebensweise motivieren.
Gesundheits-Expertin Kelly von Swiss Re sieht Prävention auch nicht allein als staatliche Aufgabe, denn auch der private Sektor sei gefragt. Durch passende Vorsorgeangebote oder eben technische Hilfsmittel könnte beispielsweise die Versicherungswirtschaft „die Menschen dazu anzuhalten, sich für eine Lebensweise zu entscheiden, mit der sie länger und gesünder leben“.