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Start-ups

Oletzky: „Die Unternehmen müssen frühzeitig investieren“

Der Wissenschaftler Torsten Oletzky fordert von den Versicherern mehr Tempo und Mut bei der Nutzung von künstlicher Intelligenz. Viele Unternehmen warteten noch ab. Man müsse aber früh anfangen, um ans Ziel zu kommen.

Karsten Röbisch (© Christian Kruppa / GDV)
Karsten Röbisch
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© Christian Kruppa

Torsten Oletzky ist Professor an der Technischen Hochschule Köln. Der frühere Ergo-Chef ist gleichzeitig Vorstand im InsurLab Germany – einer Plattform für Gründer, Investoren und Partner aus der Versicherungsbranche. 

Herr Oletzky, die Rahmenbedingungen für Start-ups haben sich in den letzten drei Jahren verändert: höhere Kapitalkosten, größere Vorsicht der Investoren und vielleicht auch eine vorsichtigere Aufsicht. Wie aktiv und vital ist die Gründerszene im Augenblick?
Torsten Oletzky: Es ist schon so, dass die Start-up-Szene zurzeit ein wenig ihre Wunden leckt. Die veränderten Rahmenbedingungen machen es definitiv nicht leichter, zugleich haben eine Reihe der früh gegründeten Start-ups den Punkt erreicht, wo sie nachweisen müssen, dass ihr Geschäftsmodell auch funktioniert. Und das hat erwartungsgemäß nicht überall funktioniert. Auch das veränderte Zinsumfeld macht es derzeit schwerer, Insurtech-Geschäftsmodelle zu finanzieren.

Es entsteht generell der Eindruck, dass die große Disruption ausgeblieben ist. Viele Pioniere sind nicht mehr da oder haben ihr Geschäftsmodell verändert? Waren die Erwartungen zu hoch oder ist die Branche einfach schwer zu knacken?
Oletzky: Es ist einerseits ein ganz normaler Prozess. Wenn viele neue Unternehmen an den Start gehen, dann erwartet man nicht, dass neun von zehn die Ziellinie erreichen, sondern dass eine größere Zahl scheitert. Andererseits haben vielleicht einzelne Anbieter tatsächlich die Besonderheiten der Branche unterschätzt. 

Welche meinen Sie?
Oletzky:
Versicherung ist ein langfristiges Geschäft. Das kann man also auch nicht kurzfristig knacken, wenn man von außen angreift. Versicherung ist zudem ein Geschäft, wo diejenigen, die große Kundenbestände haben, einen Vorteil haben. Wenn ich klein anfange, dann kämpfe ich gegen das Gesetz der großen Zahl. Und das ist nicht ganz einfach. Und die vielen Start-ups haben möglicherweise auch das Desinteresse der Kunden unterschätzt. Sie interessieren sich nicht in dem Maße für Versicherung. Selbst wenn ich eine etwas bessere Lösung, ein besseres Produkt oder einen etwas besseren Prozess anbiete, heißt das noch nicht, dass die Kundinnen und Kunden zwangsläufig in großen Scharen überlaufen.

Zählt zu den Besonderheiten nicht auch die Dominanz des stationären Vertriebs. Ist der Versicherungsmarkt vielleicht auch deshalb schwerer einzunehmen für digitale Anbieter?
Oletzky: Das eine ist vom anderen nicht zu trennen: Weil die Kundinnen und Kunden sich nicht in dem Maße für Versicherungen interessieren, braucht es einen Vertrieb, der sie aktiv darauf anspricht und die Produkte erklärt. 

Im Bankensektor gibt es einige namhafte Neugründungen, darunter Vollbanken, Broker oder Bezahldienste. Täuscht der Eindruck oder schneidet der Versicherungssektor im Vergleich schlechter ab?
Oletzky: Die Banken haben einen riesigen Vorteil, den sie auch nutzen. Ihr Geschäftsmodell beinhaltet Produkte, bei denen es eine hohe Kontakthäufigkeit gibt. Mit meinem Girokonto mache ich im Monat zahlreiche Transaktionen. Da bin ich auch bereit, mir eine Online-Lösung von meiner Bank anzuschauen, die ich relativ schnell beherrsche und die mir Vorteile bringt. Versicherung dagegen ist ein Geschäft mit vergleichsweise wenigen Kontaktpunkten. Und das macht es schwer, Selbstbedienungslösungen zu etablieren. 

„Aus meiner Sicht haben die meisten Innovationen etwas mit Effizienzverbesserungen in Prozessen zu tun.“

Nun digitalisieren sich die Versicherer ja aber auch. So ist der Online-Abschluss einer Police inzwischen die Regel. Welche sind für Sie die wichtigsten Innovationen in der Branche?
Oletzky: So gerne ich die Versicherungswirtschaft mag, für besonders innovationsfreudig würde ich sie nicht halten. Das hat damit zu tun, dass das Geschäft auf Langfristigkeit beruht und dass etablierte Geschäftsmodelle gern gepflegt werden. Insofern gibt es starke Beharrungskräfte. Trotzdem hat die Versicherungswirtschaft Fortschritte gemacht, meist dort, wo sie selbst Druck verspürt hat. Weil es eben nicht mehr so leicht ist, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Oder weil die Kostendiskussion Oberhand gewonnen hat. Aus meiner Sicht haben die meisten Innovationen etwas mit Effizienzverbesserungen in Prozessen zu tun, etwa durch den Einsatz von Automatisierung im Kundenservice oder von Algorithmen in der Schadenregulierung. 

Ist das eine Entwicklung, die mit der künstlichen Intelligenz (KI) an Fahrt aufnehmen könnte? 
Oletzky: Die Anwendungsmöglichkeiten von KI sind sehr breit. Und das kann für die Versicherungswirtschaft tatsächlich heißen, dass es zu nennenswerten Effizienzsprüngen kommen könnte. Das wird aber nicht von allein passieren. Die Unternehmen müssen frühzeitig investieren. Die Bereitschaft sehe ich bei einigen, aber lange noch nicht bei allen. Es ist nett, dass jetzt alle ein bisschen mit ChatGPT herumspielen und damit schöne kleine Anwendungen bauen. Aber das reicht nicht aus. Da muss deutlich mehr passieren. Im Moment stehen viele noch an der Seitenlinie und gucken, was die anderen machen. Sie warten ab, was denn mal erfolgreich sein wird. Nur: Wenn ich nicht frühzeitig anfange, mich damit auseinanderzusetzen, dann werde ich nicht rechtzeitig an das Ziel kommen.

Welches sind denn aus ihrer Sicht die vielversprechendsten KI-Anwendungsfälle für Versicherer?
Oletzky: Das sind für mich Technologien, die dazu führen, dass vorhandene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter effizienter arbeiten können. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen und relativ wenige junge Fachkräfte nachrücken, wie kann ich dann mit einer kleineren Belegschaft die gleiche Arbeit schaffen: die Beratung, den Kundenservice? Auf diesem Gebiet wird geforscht, probiert und investiert, denn es verspricht deutliche Effizienzsprünge. Das Schöne an der künstlichen Intelligenz ist zudem: Sie arbeitet 24 Stunden, sieben Tage die Woche. 

Also KI auch als Mittel im Kampf gegen den Fachkräftemangel?
Oletzky: Definitiv. KI ist die Technologie, die uns bei dem Problem am ehesten helfen kann.

„Die Unternehmen müssen den Paradigmenwechsel schaffen – weg von der selbst gebauten IT-Infrastruktur ohne Standard-Software hin in eine Welt, in der sie deutlich stärker in Netzwerken denken und mit Anbietern kooperieren.“

Nun neigen Versicherer bei Digitalisierungsprojekten gern dazu, auf Eigenentwicklungen zu setzen. Sehen Sie das jetzt bei KI auch? Oder gibt es eine größere Bereitschaft, mit Dritten zu kooperieren?
Oletzky: Allen, die glauben, sie könnten das selbst, kann ich nur sagen: „Viel Spaß dabei.“ Das wird bei den meisten nicht funktionieren, schon weil sie die Datenmengen für viele KI-Anwendungen nicht haben. Und weil es für einen Versicherer auch nicht so einfach ist, in kurzer Zeit so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, die diese neue Technologie beherrschen. Das heißt, an Kooperationen führt kein Weg vorbei. Die Unternehmen müssen den Paradigmenwechsel schaffen – weg von der selbst gebauten IT-Infrastruktur ohne Standard-Software hin in eine Welt, in der sie deutlich stärker in Netzwerken denken und mit Anbietern kooperieren. Und da kann es auch wieder Spielräume für Insurtechs geben, die ihre Prozessinnovationen anbieten und die so die Daten der Versicherer bündeln. Im Moment haben sowohl die Insurtechs als auch die Versicherer den Vorteil, dass die großen Technologieunternehmen die Branche noch nicht als lukratives Feld für sich entdeckt haben. Aber das kann sich natürlich auch einmal ändern.

Sie haben berufsbedingt einen guten Marktüberblick, auch über Deutschland hinaus. Gibt es im Ausland bereits – sagen wir – Killer-Applikationen, die auch hierzulande eine disruptive Wirkung entfalten könnten.
Oletzky: Wenn es diese Killer-Applikationen gäbe, würden wir das auch in Deutschland nicht verschlafen. Da sind die Grenzen schon durchlässig. Aber diese Geschäftsmodelle sehe ich derzeit nicht. Ich beobachte allerdings, dass andere Länder eine deutlich höhere Gründungsaktivität haben. Das heißt, es gibt andere Märkte in Europa, wo Technologie intensiver genutzt wird und zu erfolgreicheren Gründungen führt. Und als Deutscher schmerzt mich das ein wenig. Ich würde gerne mehr dieser Entwicklung auch in Deutschland sehen.

Was braucht es dafür?
Oletzky: Es hat viel mit Gründungskultur und Risikobereitschaft zu tun. Ich erlebe auch bei jungen Menschen in Deutschland inzwischen wieder die Tendenz, sich für den sicheren Arbeitsplatz zu entscheiden statt sich auf das spannende Projekt einzulassen und etwas zu wagen. Es ist aber nicht gesund für eine Volkswirtschaft, wenn zu wenige neue Unternehmen gegründet werden. Für den Standort wäre es wichtig, wenn wir Innovation und Gründung systematisch fördern. Da sind die Politik gefordert, in der Regulierung die BaFin, was Anwendung und Interpretation der Regeln angeht, und die Hochschulen im Hinblick auf Schulung und Ausbildung der in den Arbeitsmarkt nachrückenden Generation. Es braucht zudem ein besseres Finanzierungsumfeld. Wir sind in Deutschland nicht sehr stark, was das Risikokapitalangebot angeht. Und auch die Kunden könnten einen Beitrag leisten, indem sie ein bisschen genauer hinschauen, was und wo sie kaufen. Das ist mein Wunsch. Wenn alle zusammenspielen, kann Deutschland den Rückstand aufholen, den es im Moment noch hat.

Sie sprachen die Regulierung an: Ist denn die Einstufung bestimmter Versicherungen als Hochrisikoanwendung für KI zu restriktiv? Oder erlaubt sie noch Innovationen?
Oletzky: Ich finde, es ist noch ein bisschen zu früh zu beurteilen, was die Einstufung in der EU-Klassifikation tatsächlich für Folgen haben wird. Ich bin mir aber sicher, dass wir auf allen Ebenen Technologieoffenheit brauchen werden. Das gilt auch für die Versicherungsaufsicht. Eine Position, die da heißt: „Ihr müsst jede Entscheidung, die ihr getroffen habt, immer lückenlos erklären können“, wird mit der Blackbox-Logik von künstlicher Intelligenz nicht ganz einfach umzusetzen sein. An der Stelle wird auch die Aufsicht lernen müssen, Anforderungen realistisch zu formulieren. Ich sehe da durchaus Bewegung. Aber die Entwicklung wird noch weitergehen müssen: dass wir offener sind für Entscheidungsprozesse, in denen künstliche Intelligenz eine Rolle spielt. Und in denen man nicht alles immer lückenlos nachverfolgen kann. Das ist sicherlich ein Spannungsfeld, das nicht einfach aufzulösen ist.