„Nicht jeder ist bereit, seinen Lebensstandard in einer Krise nach unten anzupassen“
Hohe Energiekosten, steigende Preise und höhere Zinsen könnten mehr Beschäftigte zu Straftaten gegen ihre Arbeitgeber motivieren, sagt der Kriminologe Professor Dr. Hendrik Schneider.
Herr Professor Schneider, wann und warum werden Mitarbeiter kriminell?
Hendrik Schneider: Dazu müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. Erstens muss der Täter überhaupt eine Tatgelegenheit haben, also eine Lücke in den Kontrollsystemen finden. Manche suchen aktiv und gezielt danach, andere stoßen zufällig darauf. Aber nicht jeder, der eine Lücke erkennt, wird zum Täter. Nötig ist zweitens noch ein Tatmotiv. Das ist in erster Linie der eigene finanzielle Vorteil. Die meisten Täter können mit ihrem Einkommen schlicht ihren Lebensstil nicht bezahlen.
Nun drohen vielen Menschen hohe Nachzahlungen bei den Energie- und Heizkosten, die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen, Eigentümer von Immobilien werden durch die gestiegenen Zinsen höhere Raten zahlen müssen, wenn die Zinsbindung ihrer Kredite ausläuft. Besteht die Gefahr, dass Menschen in solchen Situationen vermehrt zu kriminellen Mitteln greifen?
Schneider: Grundsätzlich haben die Menschen zwei legale und gesellschaftlich anerkannte Möglichkeiten, auf solche finanziellen Drucksituationen zu reagieren: Sie können versuchen, ihre Kosten zu senken oder ihr Einkommen zu erhöhen. Die große Mehrheit wird also die Wohnung etwas weniger heizen, auf einen Urlaub verzichten, Überstunden machen oder einen Zweitjob annehmen. Aber: Zum einen wird das nicht in jedem Fall möglich sein oder nicht immer ausreichen. Und zum anderen ist auch nicht jeder bereit, seinen Lebensstandard in einer Krisensituation nach unten anzupassen.
Diejenigen suchen dann ihr Heil in der Kriminalität?
Schneider: Nicht zwingend. Die möglichen Reaktionen hat der Soziologe Robert King Merton in seiner Anomie-Theorie schon in der 1930er-Jahren beschrieben. Merton versteht finanzielle Drucksituationen als Folge einer Diskrepanz: Ein Mensch möchte sozial und kulturell anerkannte Ziele erreichen, man könnte auch sagen: Er möchte an der Gesellschaft teilhaben. Nun kann er das aber nicht mehr, weil ihm die dafür nötigen legitimen Erwerbsmöglichkeiten fehlen. Diese Diskrepanz überwindet die Mehrheit, indem sie ihre Ansprüche herunterschraubt oder ihre legitimen Mittel erhöht. Das sind die systemkonformen Möglichkeiten, und die meisten werden diesen Weg gehen. Es gibt aber auch andere Reaktionen. Merton nennt sie Rebellion, Rückzug, Innovation. Bei Rebellion und Rückzug werden sowohl die Ansprüche als auch die Mittel in Frage gestellt: Man lehnt das kapitalistische System ab und zieht sich entweder passiv aus ihm zurück oder bekämpft es aktiv.
Und was verbirgt sich hinter der Innovation?
Schneider: Die Innovatoren sind in Mertons Theorie genau diejenigen, die kriminell werden. Sie verfolgen zwar weiterhin die kulturell und sozial anerkannten Ziele, aber sie wenden nun auch illegale Mittel an, um diese Ziele zu erreichen bzw. ihren Lebensstandard zu halten.
Wie groß ist der Anteil dieser „Innovatoren“ unter den unter Druck stehenden Menschen?
Schneider: Das kann man nicht genau beziffern. Jeder Betroffene muss sich auf dem einen oder anderen Weg anpassen, aber der Anteil der verschiedenen Reaktionen ist keine feste Größe, sondern immer von den Umständen, vom sozialen Umfeld und der gesellschaftlichen Wirklichkeit abhängig: Wer in einer Hungersnot Brot stehlen muss, um zu überleben, steht unter einem anderen Druck als jemand, der sein Brot zwar nicht mehr beim Bäcker, aber immer noch beim Discounter kaufen kann. Sicher ist nur, dass die weit überwiegende Mehrheit systemkonform handeln wird, die Rebellen und Innovatoren sind eine Minderheit – aber es gibt sie. Wenn aber aufgrund gesellschaftlicher, politischer oder ökonomischer Veränderungen der finanzielle Druck größer wird, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es mehr „Innovatoren“ und daher mehr Kriminalität gibt.
Was heißt das für die Gefahr kriminellen Verhaltens am Arbeitsplatz?
Schneider: Der Arbeitsplatz kann in solchen finanziellen Drucksituationen ein bevorzugter Ort für kriminelles Handeln sein. Kaum jemand wird mit der Waffe in der Hand Banken überfallen, um seine Gasrechnung bezahlen zu können. Stattdessen gilt der alte Satz „Gelegenheit macht Diebe“. Je höher der mögliche Gewinn für den Täter und je geringer das Risiko ist, entdeckt zu werden, desto eher wird der Arbeitsplatz zum Tatort. Dann greifen die einen in die Kasse oder unterschlagen Gelder, die anderen lassen etwas aus dem Lager mitgehen oder sich vielleicht bestechen. Vor allem Menschen, die eine Tatgelegenheit bereits bemerkt haben, könnten nun versucht sein, sie auch zu nutzen.
Wer bei seinen Machenschaften erwischt wird, ist schnell seinen Job los und wird nur schwer einen neuen finden – wirkt diese Überlegung nicht abschreckend auf potenzielle Täter, gerade in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld?
Schneider: Auf manche sicherlich. Wir sehen aber immer wieder, dass Täter ihren kurzfristigen und in ihren Augen ja auch sicheren Vorteil deutlich stärker gewichten als das entferntere Risiko, entdeckt und für die Tat sanktioniert zu werden. Wer zur Tat entschlossen ist und glaubt, er werde ohnehin nicht erwischt, blendet die negativen Folgen einer Entdeckung schlicht aus.
Von wem geht die größere Gefahr aus: dem einfachen Angestellten oder dem Manager?
Schneider: Die Inflation trifft Haushalte mit geringeren Einkommen natürlich härter und unmittelbarer als Gut- und Besserverdiener. Wer schon bisher jeden Cent umdrehen musste, wird von den hohen Preissteigerungen schnell überwältigt – mit dem entsprechenden Anpassungsdruck. Aber: Auch Führungskräfte spüren den wirtschaftlichen Druck und können zu Tätern werden. Manche handeln dabei vielleicht sogar im vermeintlichen Interesse ihres Unternehmens handeln, und sei es nur um Umsatzziele zu erreichen, an denen wiederum ihre Boni geknüpft sind. In solchen Fällen werden dann vielleicht Compliance- und Umweltvorschriften umgangen, Kurzarbeitergelder erschlichen oder Aufträge durch Korruption gewonnen. Wirtschaftskriminalität hat viele Gesichter.
Wie können sich Unternehmen gegen kriminelle Machenschaften ihrer Mitarbeiter schützen?
Schneider: Die Unternehmen müssen die Tatgelegenheiten auf ein Minimum reduzieren. Das beginnt mit einer klaren und auch klar kommunizierten Kultur im Umgang mit Unregelmäßigkeiten und Compliance-Vorschriften. Werden zum Beispiel auffällige Reisekostenabrechnungen hinterfragt? Steht hinter jedem Beratungsvertrag auch tatsächlich eine entsprechende Leistung? Wird das Vier-Augen-Prinzip wirklich gelebt? Für bestimmte Positionen kann auch ein Rotationsprinzip sinnvoll sein. Und: Konsequentes Vorgehen gegen kriminelle Mitarbeiter spricht sich im Haus schnell herum und wirkt präventiv.
Im kommenden Jahr sollen Unternehmen ab 50 Mitarbeiter so genannte Hinweisgebersysteme einführen. Welchen Beitrag können sie zur Prävention leisten?
Schneider: Whistleblowing-Systeme sind eine hervorragende Form der Prävention, weil sie sowohl das objektive als auch das gefühlte Entdeckungsrisiko erhöhen. Schon das Wissen, das alle Kollegen eine feste und bekannte Kontaktadresse haben, um Verdachtsmomente zu melden kann mögliche Täter also wirksam abschrecken.
Wie sollten diese Hinweisgebersysteme ausgestaltet sein?
Schneider: Vor allem müssen Mitarbeiter darauf vertrauen können, dass mit einem geäußerten Verdacht wirklich professionell umgegangen wird. Das gilt vor allem für die strikte Vertraulichkeit der Gespräche. Schließlich kann sich ein Verdacht nicht nur gegen Kollegen oder Untergebene, sondern auch gegen Vorgesetzte richten. Wichtig ist aber auch, die Mitarbeiter zu schulen und zu sensibilisieren. Daran hapert es in der Praxis: Ich erlebe oft Firmen, die ein Hinweisgeber-System samt konkretem Ansprechpartner bei Verdachtsfällen eingeführt haben – und bei Schulungen stellt sich heraus, dass viele Mitarbeiter nichts davon wissen.
Können Unternehmen auch vermeiden, spätere Straftäter überhaupt einzustellen?
Schneider: Dafür gibt es kein Patentrezept. Für Posten in sensiblen Bereichen sollten Unternehmen aber nicht nur auf Arbeitszeugnisse vertrauen, sondern auch Referenzpersonen bei früheren Arbeitgebern anrufen und ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen. Täter mit hoher krimineller Energie wurden häufig schon für andere Wirtschaftsvergehen verurteilt. Ersttäter kann man vorher hingegen so gut wie nicht identifizieren. Stattdessen müssen Unternehmen die Tatgelegenheiten minimieren und das Entdeckungsrisiko maximieren.
Zur Person
Prof. Dr. jur. Hendrik Schneider ist Rechtsanwalt und Kriminologe. Nach seiner Habilitation und Lehrtätigkeiten an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz hatte er von 2006 bis 2020 den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht der Universität Leipzig inne. In seiner Heimatstadt Wiesbaden führt Schneider eine Kanzlei für Wirtschafts- und Medizinstrafrecht.
Hintergrund: Die Vertrauensschadenversicherung schützt
Eine Vertrauensschadenversicherung zahlt, wenn Unternehmen Opfer von kriminellen Vertrauenspersonen geworden sind – also wenn Mitarbeiter eines Unternehmens Geld unterschlagen, das Unternehmen sabotieren, Geschäftsgeheimnisse verraten oder sich der Untreue schuldig machen. Auch die kriminellen Machenschaften von Zeitarbeitern oder den Mitarbeitern von Dienstleistern sind versichert. Vorsätzlich begangene Taten von fremden Betrügern (etwa bei Fake-President-Fällen) und zielgerichtete Angriffe auf Daten und IT-Systeme des Unternehmens sind üblicherweise ebenfalls im Rahmen einer Vertrauensschadenversicherung versichert.