Nach der Katastrophe
Wie lässt sich eine kaputte Welt wieder aufbauen, wie darin leben? Ein Jahr nach der Flutkatastrophe im Ahrtal formen sich darauf Antworten. Eine erneute Reise mit Erik Thees, einem Schadenexperten der Versicherer.
Hans Jürgen Mertens zeigt die neuen Räume seines Elternhauses. Sanierte Wohnungen und Büros, im Souterrain und Erdgeschoss des flachen Gebäudes. „An sich selbst denkt man zuletzt. Man muss ja erst den anderen helfen.“, sagt der Architekt fast entschuldigend dafür, dass die letzte Wohnung erst vor kurzem fertig geworden ist. Nahezu einen halben Meter steht hier vor einem Jahr das Wasser im Haus, 400 Meter Luftlinie von der Ahr entfernt. Flutet die Räume, das Inventar, die Fußbodenheizung. Den Estrich raus, den Putz. Trocknen, trocknen, trocknen. Dann wieder aufbauen. Ein IT-Experte zieht vor zwei Monaten als erster wieder ein. „Der war so froh, endlich wieder aus dem Homeoffice herauszukommen.“
Das Ahrtal. Realität gewordene Furchtbarkeit des Begriffs Naturkatastrophe in Deutschland. Zwei Tage Regen lassen in der Nacht vom 14. Juli auf den 15. Juli 2021 die kleine Ahr zur tödlichen Flutwelle anschwellen. Die sich neue Auslaufflächen sucht, auf ihrem Weg alles mitreißt – Brücken, Straßen, Häuser, Lkw, Menschen. 134 Tote im Landkreis Ahrweiler. „Man wird demütig“, sagt Hans Jürgen Mertens, dessen Job es ist, Gebäude zu entwerfen, die Menschen Raum und Schutz geben. Mertens selbst steht mit seiner Frau in dieser Nacht auf der Straße, sieht das Wasser. „Du begreifst nicht, was passiert.“ Das Ausmaß der Katastrophe schildern ihm Bekannte von außerhalb. „Die waren besser informiert als wir hier vor Ort“. Denn vor Ort ist: Nichts mehr.
Ja, er entwirft seitdem anders, sagt der Architekt. Nach 100 neuen Wohnungen arbeitet Mertens jetzt auch an öffentlichen Gebäuden. Noch nicht lange managt eine Aufbaugesellschaft den Wiederaufbau der Infrastruktur im Landkreis Ahrweiler. 1.200 Projekte – vom Kindergarten über Rathäuser bis zu Brücken. Eine Mammutaufgabe. Mertens zeigt den Entwurf zu einem medizinischen Zentrum an der Ahr. Auf einer künstlichen Anhöhe, mit freien Auslaufflächen für das Wasser drumherum. Druckwasserdichte Fenster, Heiztanks unterm Dach.
„Privat hat sich viel getan, im öffentlichen Bereich noch wenig“, sagt Mertens. Er schätzt, dass der Wiederaufbau der Infrastruktur noch zehn Jahre dauern wird. „Aber die Menschen brauchen jetzt ein Zeichen der Hoffnung“.
Es ist bald geschafft
„Das wird wieder. Ist jetzt halt viel Arbeit“. Vor einem Jahr eilt Erik Thees durch das kaputte Land von Versicherungskundin zu Kunde. Begutachtet die zerstörten Häuser, bewertet die Schäden, erstellt Sanierungspläne, kalkuliert die Kosten. Eng getaktet, weil es so viele sind, die Hilfe brauchen.
Jetzt ist mehr Zeit, immer noch viel zu tun. Vor einem Jahr ist es der Job von Erik Thees, den Menschen die Gewissheit zu geben, dass es weitergeht. Jetzt gibt sein Job die Gewissheit, dass es bald geschafft ist.
Die K.s haben das zweite Mal binnen zwölf Monaten Wasser im Haus. Der Starkregen vom 16. Mai 2022 über Bad Neuenahr-Ahrweiler lässt ihren Keller volllaufen, bringt auch Fäkalien mit. Diesmal läuft das Wasser von der Straße ins Haus. Es läuft nur in den Keller. Nicht von der Ahr über den Garten auch ins gesamte Erdgeschoss wie 2021. Dennoch: wieder muss unten alles raus, gereinigt werden, trocknen – der Fußboden, der Putz.
Im Erdgeschoss verlegt der Elektriker die Leitungen an den neuen Wänden, schafft die Stromanschlüsse. Monatelang suchen sie einen neuen. Handwerker sind knapp. Es muss ja so viel saniert und gebaut werden. Allein im Landkreis Ahrweiler hat die Flut mehr als jedes fünfte versicherte Haus geschädigt oder ganz zerstört. Und nur 37 Prozent der Gebäude in Rheinland-Pfalz sind zu diesem Zeitpunkt überhaupt elementarversichert. Auch, wenn Firmen aus ganz Europa hier sind, es reicht nicht. So wenig wie das Baumaterial.
„Wenn der Elektriker durch ist, dann geht es schnell“, sagt Thees und checkt mit den K.s. die noch anstehenden Arbeiten und die Vorauszahlungen der Versicherung dafür. Rund eine Million Euro wird es am Ende kosten. Auch neue Fenster sind dabei, dreifach verglast. So wollen es die beiden, um sich grundsätzlich besser zu schützen. Die Versicherung zahlt den Wert der ursprünglichen Doppelfenster. Die Differenz zahlen sie aus eigener Tasche. Für die K.s. ist das kein Problem. Sie sind froh, überhaupt versichert zu sein – und damit die Gewissheit verlässlichen Wiederaufbaus zu haben.
In ihrer eigenen Wohnung im 1. Stock, die die Flut 2021 verschont, schwemmt ein Wasserrohrbruch vor kurzem das Badezimmer. „Da müssen wir jetzt durch. Vielen anderen geht es ja auch nicht anders.“, sagt Frau K. Ein paar Tage Urlaub gönnen sie sich, ganz weit weg.
Einen Großteil der Schadenfälle hat sein Büro abgeschlossen, vieles ist schon fertig, sagt Thees. „Was jetzt noch übrig ist, sind die problematischen Fälle“. Schwerste, langwierige Schäden, fehlende Baugenehmigungen, fehlende Handwerksfirmen. Die Zahl der sogenannten Großschäden wie die der Ks. ist immens hoch – so hoch wie noch nie.
Oben und unten
Die kaputte Welt des Jahres 2021, sie heilt 2022 nur langsam. Und dieser Heilungsprozess zerfällt in viele kleine Splitter. Hat sein eigenes Tempo. Zu langsam? Schnell genug?
Die Splitter: Die wenigsten Menschen ziehen weg. Etwa 500 von ihnen harren in den 170 kleinen Tinyhouses aus, die im Landkreis verteilt sind. Andere leben in Ausweichwohnungen, bis nach Köln oder Bonn, mindestens eine Zugstunde entfernt. Wie lange noch?
Viele Geschäfte sind noch geschlossen. Supermärkte und Geldinstitute, Gemeindeverwaltungen agieren aus eilends aufgebauten Hallen. Gastronomie und Winzer bewirten aus kleinen Trucks oder Marktwagen.
Die Flut verkehrt die Hierarchie von oben und unten. Weiter oben, wo das Tal der Ahr immer enger wird, wütet sie am schlimmsten. Aufgestaut durch die Enge, die vielen Brücken, die sie einstürzen lässt, reißt sie Häuser und Menschen mit. Schwemmt in andere bis unters Dach, vier Meter und höher. Verändert auch die Landschaft. Geröll liegt immer noch an ihren Ufern, wo sonst Grün wächst.
Das Tal hinauf mehren sich die leerstehenden Gebäude. Lücken voll Schutt und Wildwuchs in Häuserzeilen. Bagger, Bagger, Wohnmobile. „Dank an die Helfer“-Schilder verblassen.
Ein Wohngebäude mit 14 Wohnungen, auch Ferienapartments, in Altenahr. Die Straße zwischen Grundstück und Fluss noch gesperrt, daneben überwucherte Brachfläche. Bis zum 15. Juli 2021 steht dort ein Haus, wo jetzt Brennnesseln wuchern.
Der Mehrgeschosser dahinter ist noch ganz neu, erst 2019 fertiggestellt. Jetzt ist er wieder Rohbau, das Wasser verschont nur das oberste Geschoss. Erik Thees zeigt auf die blankgelegten Mauern, Löcher darin. Es sind Dämmsteine, so großporig, dass sie sich wie Schwämme vollsaugen. Entsprechend lang müssen sie trocknen. „Massiv bauen“ sei der bessere Schutz, sagt Thees. Solides Mauerwerk, am besten aus der Region. Die Gebäude gegenüber dem Wohnhaus, Restaurants, Gasthäuser, stehen leer. Aus den Mauern dringt der Geruch des Öls, das noch darin nistet. „Nicht versichert“, sagt der Eigentümer des Mehrgeschossers. „Wer weiß, ob die jemals wiederkommen.“ Und dann: „Und wenn wir auf dem höchsten Berg bauen, wir schließen eine Elementarversicherung ab.“
Fast wieder Zuhause
Vor einem Jahr steht Herr S. in den nackten, noch feuchten Mauern seines Hauses an der Ahr und schildert das Geräusch der Möbel, die das Wasser unter ihnen gegen die Wände schlägt. Versucht, sich zu erinnern, ob das Wasser kalt oder warm ist. Er und seine Frau harren die Flutnacht im Dachgeschoss aus. Sie sind überfordert angesichts ihrer Ruine und sagen das auch. Erik Thees bespricht mit ihnen, was wann wie zu tun ist. Das gibt ihnen Struktur.
Jetzt sitzt Herr S. auf der Terrasse, schaut auf den Garten und redet über das Bienenvolk, das er hier wieder ansiedeln möchte, und sagt dann: „Mit meinen Möglichkeiten und meinem Tempo sind wir schon weit. Ich bin kein Bauherr und wollte auch nie einer sein“. Er arbeitet im örtlichen Krankenhaus, fährt jeden Tag eine Stunde auf seine Haus-Baustelle. Spricht mit den Handwerkern. Holt dann im provisorischen Zuhause, in einer WG in Bonn, Angebote ein.
Was ist geschafft? Die Mauern sind trocken und neu verkleidet, ein neuer Fußboden. Elektroleitungen und -anschlüsse verlegt. Der kontaminierte Boden im Garten ist ausgetauscht. Dort blühen Wildblumen. Einmal wöchentlich kommt Frau S. und arbeitet im Garten. „Schon fast wieder wie Zuhause“, sagt Herr S. und beschreibt, wie sie vor kurzem auf der Terrasse sitzen, ein Bier in der Hand. Aus dem Autoradio Musik.
Was ist noch zu tun? Thees und er gehen die Schritte durch. Auch, was die Versicherung an weiteren Vorauszahlungen für Handwerker und Material zahlt. Auch für seine Eigenleistungen bekommt Herr S. eine Entschädigung, ebenso dafür, dass er und seine Frau nicht im Haus wohnen können, zusätzlich zur übernommenen Miete. Das beruhigt, und strukturiert auch weiterhin. Spätestens Weihnachten 2022 wollen sie wieder einziehen. Thees rät, die noch fehlenden Türen schnell zu bestellen, damit sie rechtzeitig geliefert werden können.
Die Menschen auf dieser Reise. Sie wirken müde. Doch irgendwie auch: wieder geerdet. Was die Oberfläche verbirgt, was jeder Regen wieder hochspült, ist nur zu ahnen. Noch fahren Busse mit mobiler psychologischer Beratung durchs Land.
Vor einem Jahr, ein paar Wochen nach der Flut, liegt ein Trauma über dem kaputten Tal, schwerer als der modernde Schutt der Flut überall. Viel schwerer als der Dreck, den die Presslufthämmer von den verbliebenen Wänden schlagen. Und die Menschen darin: zerbrechlich. „Wir können nicht mehr“, sagen sie 2021, ein paar Wochen nach der Katastrophe. Ein überstandener Winter und der Sommer danach zeigen: Sie können. Vielleicht ist dies auch ein Zeichen der Hoffnung, das sich der Architekt Hans Jürgen Mertens wünscht.