„Höchste Eile, den Umbau zu beschleunigen“
Die Klimaneutralität Europas ist ein Großprojekt, das tiefgreifende Einschnitte und hohe Investitionen erfordert, sagt Ernst Rauch, Chefklimatologe der Munich Re. Um das Ziel bis 2050 zu erreichen, brauche es mehr Tempo.
Herr Rauch, laut Weltklimarat IPPC hat sich die Erde gegenüber der vorindustriellen Zeit bereits um 1,1 Grad erwärmt. Wie realistisch es ist eigentlich noch, dass wir das Pariser Klimaschutzziel von maximal 2 Grad, besser noch von 1,5 Grad, bis 2100 erreichen?
Ernst Rauch: Die 1,5 Grad sind wahrscheinlich nicht mehr erreichbar. Wir beobachten, dass die Treibhausgasemissionen im Jahr 2022 weiter angestiegen sind. Schreiben wir die gegenwärtigen jährlichen Emissionen fort, kommen wir bis 2050 auf etwa zwei Grad plus verglichen mit dem vorindustriellen Zeitalter.
Was muss jetzt passieren?
Rauch: Es gibt zwei Ansätze, die auf unterschiedlichen Zeitskalen wirken, aber ähnlich dringlich sind. Der erste ist Prävention und Anpassung an das bereits Unvermeidbare. Treibhausgase wie Kohlendioxid haben eine Wirkungsdauer in der Atmosphäre von 100 Jahren. Das bedeutet, dass wir mit dem Bestand, den wir bereits in der Atmosphäre haben, die nächsten zwei Generationen leben müssen. Deshalb müssen wir uns an die Folgen des Klimawandels – intensivere Unwetter, Starkregen, Überschwemmungen oder auch Dürren – besser anpassen. Wenn wir das nicht tun, werden die Schäden, ob nun von der Versicherungswirtschaft getragen oder von der Gesellschaft, weiter zunehmen. Das Gute ist: Prävention wirkt sofort.
Und die zweite Maßnahme?
Rauch: Ist die Vermeidung von Treibhausgasemissionen. Das ist genauso wichtig, nur wirken die Maßnahmen auf einer deutlich längeren Zeitskala. Wenn wir heute die Emissionen reduzieren, verändert sich die Konzentration zunächst nur langsam, und die Erwärmung der Atmosphäre und Ozeane würde noch lange anhalten. Trotzdem müssen wir die Emissionen runterfahren.
Und wie?
Rauch: Erneuerbare Energien fördern und treibhausgasneutrale Energieträger wie Wasserstoff umfangreich einsetzen. Und zwar nicht bloß vor unserer Haustür, sondern auf der ganzen Welt. Nur dann erreichen wir eine wirksame Abschwächung der Erwärmung. Das wird allerdings sehr lange dauern. Wir werden zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele aber auch in erheblichem Umfang wieder Kohlendioxid aus der Atmosphäre entnehmen müssen. Das gelingt über Technologien wie Carbon Capture and Storage. Deren mögliche Risiken können über Versicherungslösungen abgesichert werden
Kommen wir auf das Thema Prävention zurück. Wie gut ist Deutschland aufgestellt?
Rauch: Der erste und wichtigste Schritt ist das Erkennen der Situation: Wie gefährdet bin ich? Wie groß ist die Anfälligkeit für Schäden. Dafür braucht es entsprechende Informationen. Hier hat die Versicherungswirtschaft viel geleistet. Das ist aus meiner Sicht in der Öffentlichkeit zu wenig bekannt. Das Zonierungssystem ZÜRS ist ein gewaltiger Schritt für mehr Transparenz und es hält viele Informationen zur Gefährdung einzelner Regionen durch Hochwasser bereit. Erst mit dem Wissen über die Gefährdungslage lassen sich geeignete Präventionsmaßnahmen ergreifen, beispielsweise der Schutz eines Hauses vor Überschwemmungen durch Drainagen oder wasserdichte Kellerfenster.
Aber ziehen die Menschen auch die richtigen Konsequenzen aus dem Wissen? beziehungsweise die Kommunen, die für die Ausweisung von Baugebieten verantwortlich sind?
Rauch: Kommunen weisen heute noch Bauland in überschwemmungsgefährdeten Gebieten aus. Ich halte das für falsch. Es wäre besser zu sagen „Du darfst hier nicht bauen“ anstatt „Du kannst bauen, aber es ist dein Problem“. Der Einzelne kann sich aber nicht völlig aus der Verantwortung ziehen. Er hat die Pflicht, sich schlau zu machen und vor einem Bauantrag die Überschwemmungsgefährdung des Grundstücks, beispielsweise anhand des ZÜRS-Systems, zu kennen. Wenn in einem gefährdeten Gebiet gebaut wird, sollte es im Schadenfall keinen Automatismus für die Unterstützung durch öffentliche Gelder geben. Prävention ist eine öffentliche wie private Aufgabe. Wir brauchen dazu aber noch mehr Transparenz.
Aber wie?
Rauch: Hilfreich wäre ein Instrument, das wir aus dem Energiebereich kennen. Wenn Sie heute ein Haus verkaufen, müssen Sie es mit einem Energie-Label versehen. Das ist verpflichtend. Eine solche Pflicht halte ich auch mit Blick auf die Naturgefahrengefährdung für sinnvoll. Auf dieser Basis ließen sich Präventionsmaßnahmen ergreifen und Schäden reduzieren.
Europa hat sich vorgenommen, bis 2050 klimaneutral zu sein? Ist das technologisch überhaupt machbar?
Rauch: Das Ziel ist wissenschaftlich gut begründet. Es ist in Europa zu schaffen, aber es ist nicht einfach. Es braucht dazu nicht nur hohe Investitionen in die Energie- und Industrieinfrastruktur, sondern auch Technologien wie die zuvor schon angesprochene CO2-Entnahme aus der Atmosphäre. Und ja: Es wird viel Geld kosten und es ist die Verteilung dieser Kosten zu klären. Aber wenn es uns gelingt, bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu wirtschaften, werden wir unseren Kindern und Enkelkindern weniger Lasten aus den Folgen der Erwärmung hinterlassen. In der Diskussion über den notwendigen Technologiewandel kommt mir die Abwägung von Vor- und Nachteilen zu kurz.
Was meinen Sie?
Rauch: In der Diskussion über Klimaschutzmaßnahmen werden die Nebenwirkungen selten offengelegt. Wir stehen vor einem radikalen Umbau unserer Infrastruktur, der gesamten Hardware. Das betrifft nicht nur den Energie-, sondern auch den Mobilitätssektor und die Industrie.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Rauch: Deutschland braucht für die Energiewende etwa vier bis fünf neue Windräder pro Tag. Über jedes einzelne Windrad wird gekämpft und diskutiert. Natürlich ist der Blick für jeden von uns auf eine ausschließlich grüne Landschaft schöner als auf Windräder. In der Diskussion kommen aber positive Effekte zu kurz. Wir haben zu Spitzenzeiten in Deutschland Energie im Wert von 100 Milliarden € pro Jahr eingekauft. Anders ausgedrückt: Wir haben Kapital in dieser Größenordnung exportiert. Der Ausbau von Windrädern bringt uns nicht nur mehr Energieunabhängigkeit, sondern auch weniger Kapitalexport. Beides sind Werte, die wir nicht unterschätzen sollten.
Eine höhere Akzeptanz ist also nur eine Frage der besseren Kommunikation?
Rauch: Mir fehlt die Diskussion in der Breite. Klimaschutz ist nicht nur ein Thema für die Wissenschaft. Man muss den Menschen besser erläutern, warum manche Entwicklungen angestrebt werden und welche Wirkung und Nebenwirkungen sie haben.
Sie sprachen den Umbau der gesamten „Hardware“ an. Da geht es um Projekte mit langen Vorlaufzeiten. Ist Deutschland mit Blick auf 2050 im richtigen Tempo unterwegs?
Rauch: Die Zeit bis 2050 ist knapp bemessen. Wir reden ja nicht nur von der Digitalisierung unserer Wirtschaft. Das Thema ist der Umbau ganzer Industrien, die den Wirtschaftsstandort Deutschland groß gemacht haben. Das wird Jahrzehnte dauern. Deshalb ist es höchste Eile, den Umbau zu beschleunigen. Das sehe ich noch nicht.
Wie kann die Versicherungswirtschaft den Wandel unterstützen?
Rauch: Es gibt zwei Ansätze. Der eine berührt den Kern ihres Geschäftsmodells, den Risikotransfer. Versicherer ermöglichen neue Technologien, indem sie die Risiken übernehmen. Ein Beispiel ist die Photovoltaik: Vor 10, 20 Jahren waren viele Investoren sehr zurückhaltend, weil sie das Ausfallrisiko nicht einschätzen konnten. Die Versicherungswirtschaft hat die sogenannten Performance-Risiken übernommen und so die Finanzierbarkeit erleichtert. Und gleichzeitig den Solar-Herstellern, die keine dicke Kapitalbasis hatten, ermöglicht, Produkte mit langen Garantien anzubieten. So etwas ist wichtig, um den Markthochlauf einer Technologie zu unterstützen.
Und die andere?
Rauch: Der zweite Teil liegt außerhalb des klassischen Geschäftsmodells. Es ist das, was ich mit dem Begriff Engagement bezeichne. Wir streben die Dekarbonisierung unseres eigenen Geschäftsmodells an und unterstützen die Industrie- und Gewerbekunden bei deren Transformationsprozess.
Wie kann man sich das vorstellen?
Rauch: Nehmen wir als Beispiel die Zementindustrie, die heute technologiebedingt noch mit hohen Emissionen kämpft. Man kann technisch nachrüsten und das Kohlendioxid auffangen, also „Carbon Capture“-Technik einsetzen. Diese Technologien zu versichern und damit dem Zementhersteller den Übergang zu deutlich niedrigen Emissionen zu erleichtern, ist ein Fall für das Engagement. Mit den Kunden ins Gespräch kommen und sagen: „Wir begleiten Euch mit unserem Know-how auf dem Weg der Erneuerung“.
Die Eile beim Klimaschutz ist auch den Versäumnissen der Vergangenheit geschuldet. Wann war für Sie als Klimawissenschaftler eigentlich der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie dachten: Der Befund ist so klar, die Politik müsste jetzt viel entschlossener handeln.
Rauch: 2010 habe ich mir erstmals die Frage gestellt: „Ist wirklich verstanden worden, was es bedeutet, Emissionen zu reduzieren?“. Damals gab es das erste Klimaziel einer deutschen Bundesregierung. Es waren nicht die Ziele von 2050, aber 80 bis 95 Prozent davon. Sie waren in der Sache richtig. Die Politik hat aber keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um sie zu erreichen, sondern so getan, als würde es schon irgendwie geschehen. Nur solche Dinge geschehen nicht einfach so.