Die makroprudenzielle Überwachung von Klimarisiken schreitet voran
Die Europäische Zentralbank und die Deutsche Bundesbank wollen klimabezogene Risiken für die Finanzstabilität besser einschätzen können. Daher arbeiten sie verstärkt an der Modellierung und Bewertung.
Der Klimawandel macht nicht vor dem Finanzsystem halt – so viel ist klar. Warnungen vor stranded assets in Milliardenhöhe schaffen es regelmäßig in die Schlagzeilen renommierter Zeitungen und Wirtschaftsmagazine. Das ist allerdings nicht nur für die Börse und Kapitalanleger ein wichtiges Thema. Unvorhergesehene Abschreibungen auf den fossilen Kapitalstock könnten die Finanzstabilität gefährden.
Anspruchsvolle, datengetriebene Analyse
Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich die Zentralbanken und Aufseher schon seit einigen Jahren verstärkt mit klimabezogenen Risiken. Ende 2023 haben die Europäische Zentralbank (EZB) und der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) einen neuen, umfassenden Überwachungsrahmen für klimabezogene Risiken präsentiert. Da diese Risiken systemischen Charakter haben können, müssen sie in die makroprudenzielle Überwachung einfließen. Hohe Komplexität und Unsicherheit machen die Analyse und Überwachung von Klimarisiken zu einem anspruchsvollen Unterfangen.
Vermessung des Klimawandels als Grundlage
Der neue Überwachungsrahmen analysiert den Einfluss von Klimarisiken auf Realwirtschaft und Finanzsystem in drei Schritten. Der erste Abschnitt untersucht den aktuellen Stand und die zukünftige Entwicklung von Klimafaktoren. Zu den Klimaindikatoren gehören beispielsweise die Temperaturentwicklungen und die physischen Gefahren wie Überschwemmungen, Dürren, Wasser- und Hitzestress. Die Vermessung des Klimawandels ist die Grundlage für die weitere Analyse. Der zweite Abschnitt untersucht, in welchem Umfang Realwirtschaft und mittelbar Finanzwirtschaft dem Klimawandel (exposure) ausgesetzt sind. Beispielsweise wird ermittelt, wie hoch die CO2-Emmission von Haushalten und Unternehmen sind oder welche Teile der Wirtschaft besonders von Flussüberschwemmung betroffen sind.
Analyse der Verwundbarkeit von Banken und Versicherern
Der dritte Abschnitt untersucht im Anschluss die Verwundbarkeit von Banken und Versicherern gegenüber Klimarisiken. Die EZB unterscheidet hierbei zwischen Transitionsrisiken, physischen Risiken und systemischen Risiken. Zu den physischen Klimarisiken zählen beispielsweise auch mögliche Schäden durch Flussüberschwemmungen. Hierbei sind Versicherungslücken (protection gaps) ein zentrales Thema, und zwar für Versicherer und Banken. Denn Schadensfälle durch Naturgefahren (Sturm, Hochwasser oder Starkregen) bei nicht- oder unterversicherten Immobilien können auch zu Kreditausfällen führen, die wiederum die Bilanzen von Banken belasten würden. Um die negativen Auswirkungen von Klimarisiken zu begrenzen, verweist die EZB auch auf den europäischen Aufsichtsrahmen Solvency II. Bereits seit dem Jahr 2022 müssen Versicherer im Rahmen von Solvency II Klimawandelszenarien im Own Risk and Solvency Assessment (ORSA) durchspielen.
Bundesbank nimmt Transitionsrisiken in den Fokus
In eine ähnliche Richtung gehen Arbeiten der Bundesbank über das deutsche Finanzsystem. In einem Sonderkapitel des Finanzstabilitätsberichtes 2023 beleuchtet sie die Transitionsrisiken aus dem Strukturwandel hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft. Mithilfe von Szenarioranalysen untersucht die Bundesbank die möglichen Auswirkungen eines unerwarteten globalen Anstiegs des CO2-Preises auf Versicherer, Banken und Investmentfonds. Im Szenario „Net-Zero-2050“ steigt der Preis auf bis zu 300 EUR je Tonne CO2 bis 2030 bzw. 700 EUR je Tonne CO2 bis 2050. Für Versicherer ergeben sich im ersten Jahr nach dem CO2-Preisschock Marktwertverluste im Wertpapierportfolio von 13,2 %. Dies würde laut Bundesbank 63 % der regulatorischen Eigenmittel entsprechen. In dem „Net-Zero-2050“-Szenario steigen allerdings auch die risikolosen Zinsen, was in den Jahren nach dem Schock insbesondere die Lebensversicherer mit ihren langlaufenden Verbindlichkeiten auf der Passivseite wieder entlastet. Erfreuliches Ergebnis: Alle Versicherer erfüllen in diesem Szenario weiterhin die gesetzlichen Solvenzanforderungen, selbst ohne den beschriebenen Entlastungseffekt.
Die gute Nachricht ist, dass die Bundesbank die Risiken einer geordneten, langfristigen Transition zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft als beherrschbar einschätzt. Um klimabezogene Risiken zu begrenzen, mahnt sie einen verlässlichen und vorhersehbaren klimapolitischen Kurs an. Zusätzlich könnten Offenlegungspflichten und Transparenz – als self-defeating prophecy – klimabezogene Risiken reduzieren. Denn ein stärkeres Risikobewusstsein könnte Finanzunternehmen dazu bewegen, sich besser anzupassen und ihren Kapitalstock ‚klimafest‘ zu machen.
Klimarisiken weiter hohe Priorität für Bundesbank
Bundesbank-Vorständin Dr. Sabine Mauderer hat Anfang 2024 den Vorsitz des Network for Greening the Financial System (NGFS) übernommen, dem globalen Netzwerk nachhaltigkeitsorientierter Finanzaufsichten Diese Personalie ist ein starkes Indiz dafür, dass die Bundesbank klimabezogene Risiken weiterhin priorisiert. Das NGFS präsentierte Ende 2023 ein weiteres Papier zu Klimaszenarien für Zentralbanken und Aufseher. Die NGFS-„Anleitungen“ zur Modellierung von Klimaszenarien vermitteln wichtiges Knowhow und werden unter anderem von der Bundesbank genutzt. Auch das GDV-Papier zu Klimawandelszenarien im ORSA stützt sich auf das NGFS. So entsteht ein Standard für qualitativ hochwertige und vergleichbare Klimaszenario-Analysen.
Zusätzlich rückt die Analyse naturbedingter Risiken stärker in den Fokus. Hierzu hat das NGFS im Dezember 2023 Empfehlungen zur Entwicklung von Szenarien für die Bewertung naturbedingter wirtschaftlicher und finanzieller Risiken abgegeben. Denn der Verlust der biologischen Vielfalt ist eine ähnlich große, wenn nicht größere Herausforderung als der Klimawandel.