Wie Versicherer das IT-Nachwuchsproblem angehen
Die Versicherer stehen vor großen Digitalisierungsprojekten. Dafür brauchen sie gutes Personal, das schwer zu kriegen ist. Die Lösung des Problems liegt in einem Mix verschiedener Instrumente, wie auf dem IT-Jahreskongress des GDV deutlich wurde.
Die Versicherer treibt seit Jahren eine Mammutaufgabe um: die Ablösung ihrer Großrechnersysteme (Mainframe). Über die Jahrzehnte sind sehr heterogene IT-Landschaften entstanden, die nur schwer zu überblicken sind. Und die den neuen technischen Anforderungen, allen voran Cloud-Lösungen, in Teilen nicht mehr genügen.
Der demografische Wandel erhöht den Zeitdruck für die Abschaltung der Altsysteme. Denn diejenigen Frauen und Männer, die sie beherrschen, verabschieden sich demnächst in Rente. „Bis 2040 gehen 20 bis 30 Prozent der IT-Beschäftigten in den Ruhestand“, betonte Rainer Sommer, IT-Vorstand der Provinzial, auf dem IT-Jahreskongress des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Köln. Die Nachwuchskräftegewinnung war dort eines der beherrschenden Themen.
Ablösung der Altsysteme ist komplex
Ohne das Anwendungswissen der erfahrenen Leute wird die Migration nicht gelingen. Nur: Ewig an sich binden können die Unternehmen sie nicht. Deswegen tickt die Uhr. Zumal die Ablösung der Altsysteme mit unzähligen Applikationen eine komplexe Aufgabe ist, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Schon aus Kapazitätsgründen kann die Migration von Alt auf Neu nur schrittweise erfolgen. Und ehe nicht alle Daten migriert sind, müssen auch die Altsysteme noch gewartet oder gar mit neuen Funktionalitäten ausgestattet werden.
Angesichts dieser Herausforderung wird die Inhouse-IT der Versicherer zu einer immer wertvolleren Ressource. Schon heute führen viele Unternehmen detaillierte Listen, wer von ihren Beschäftigten welche Systeme warten kann – und wann sie in Ruhestand gehen. Auf dieser Basis entstehen dann auch Migrationspläne. Personalplanung und Abschaltstrategie gehen Hand in Hand.
Große Konkurrenz um IT-Fachkräfte
Die Abhängigkeit von internen Programmierern ist auch deshalb so hoch, weil es den Versicherern schwerfällt, IT-Nachwuchskräfte zu gewinnen, die sich noch für Altsysteme begeistern. „Es gibt Beispiele von jungen Kollegen, die zu uns kommen. Aber das sind Einzelfälle,“ sagte Achim Dahlbokum, IT-Vorstand von Axa Deutschland. Ganze Teams ließen sich so nicht ersetzen.
„Wenn junge IT-Fachkräfte heute auf den Arbeitsmarkt kommen, haben sie eine große Auswahl an Möglichkeiten“, räumte auch Provinzial-IT-Vorstand Sommer ein. Die Versicherer sind nicht die einzigen, die suchen. Die Konkurrenz ist groß. „Bis 2040 werden in Deutschland insgesamt knapp 700.000 IT-Fachkräfte fehlen“, betonte Betina Kirsch, Geschäftsführerin beim Arbeitgeberverband der Versicherer (AGV). Und die jungen IT-Absolventen interessieren sich eher für Cloud, KI oder Cyber Security als für alte Programmiersprachen.
Große Versicherer nutzen IT-Hubs im Ausland
Die Branche muss daher kreative Lösungen finden, um ihren Personalbedarf zu decken. Ein Weg, den zumindest größere, international tätige Versicherer beschreiten, ist die Verlagerung von IT-Ressourcen ins europäische oder außereuropäische Ausland: „Wir haben Kapazitäten, die in Deutschland weggefallen sind, in unserem indischen Hub ersetzt“, sagte Michael Liebe von der Ergo-IT-Tochter ITERGO. Es sei aber auch in Indien keineswegs mehr so, dass dort Zehntausende Mainframe-Spezialisten auf den Markt kämen.
Anja Käfer-Rohrbach, stellvertretende GDV-Hauptgeschäftsführerin, setzt auf das Thema Diversität. „Als Branche müssen wir mehr IT-Personal rekrutieren: Das bedeutet auch mehr Frauen und mehr ausländische Fachkräfte.“ Der Frauenanteil in den IT-Bereichen der Versicherer liege derzeit bei rund einem Viertel, wie AGV-Geschäftsführerin Kirsch sagte – und ist damit niedriger als in der Branche insgesamt. Die Versicherer bemühten sich zwar um mehr weibliche IT-Kräfte, wie Provinzial-Vorstand Sommer betonte. Allerdings sei das nicht einfach. Denn schon der Talente-Pool sei im Vergleich zu den Männern deutlich kleiner.
Bessere Anreize für Frauen und ausländische Fachkräfte
Das hat tiefere Ursachen: „Nur 20 Prozent aller MINT-Absolventen in Deutschland sind Frauen“, erklärte Prof. Dr. Vera G. Meister von der Technischen Hochschule Brandenburg. In den Informatik-Ausbildungsberufen ist die Quote gar noch niedriger. Um das zu ändern, müsste man schon in den Schulen ansetzen. AGV-Geschäftsführerin Kirsch sprach sich beispielweise für MINT-Coaches aus, die das Interesse für technische Berufe wecken könnten. Auch das Aufbrechen klassischer Rollenbilder bei der Berufswahl könne helfen, mehr Mädchen für technische Berufe zu gewinnen. Eine schnelle Lösung des Nachwuchsproblems ist das jedoch nicht.
Kurzfristig wirkungsvoller könnten Anreize für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sein, um mehr Frauen zu gewinnen. „Wie teilzeitfreundlich ist die IT“, fragte Kirsch. Auch bei der Anwerbung ausländischer Bewerber könnten die Unternehmen nach Ansicht von Provinzial-IT-Vorstand Sommer noch aufgeschlossener sein – trotz der Diversity-Programme, die viele Firmen haben: „Wenn man am Ende doch auf Deutsch als Arbeitssprache besteht, schreckt das viele Interessenten ab.“ Großes Potenzial sieht Sommer zudem in der Umschulung von Beschäftigten beziehungsweise die Rekrutierung von Quereinsteigern. Zwar sei nicht jede Aufgabe für Neulinge geeignet, einige aber schon, etwa im Projekt-Controlling oder Projekt-Management.
KI ist Hilfsmittel – aber kein Heilsbringer
Eine Hilfe gegen den IT-Fachkräftemangel kann auch die künstliche Intelligenz (KI) sein. So wie große Sprachlernsysteme in der Lage seien, menschliche Sprachen zu übersetzen, so könnten sie auch auf alte Programmiersprachen trainiert werden, sagte Volker Gruhn, Professor für Software Engineering an Universität Duisburg-Essen. „Kleinteilige Code-Stücke lassen sich mi KI gut erzeugen.“ Die Ergebnisse müssten anschließend aber auch verifiziert werden, was wiederum zeitraubend sei.
Auch Marcus Loskant warnte vor zu hohen Erwartungen an die KI in Bezug auf den IT-Fachkräftemangel. KI könne viele Prozesse effizienter machen, so auch die Software-Entwicklung. „Die Verbesserungen liegen aber eher im einstelligen Bereich“, so der IT-Vorstand der LVM Versicherung. Das größere Potenzial für KI-Anwendungen in der Versicherungswirtschaft sieht er bei der Bewältigung der Arbeitslast und der Einarbeitung im Service.