Erster sektorübergreifender EU-Klimastresstest veröffentlicht
Der erste sektorübergreifende Klimastresstest bewertet die Belastbarkeit des Finanzsystems angesichts klimabedingter Risiken. Für Versicherungen sind die Ergebnisse allerdings wenig aussagekräftig, da nur die Kapitalanlagenseite betrachtet und die großen gegenläufigen Effekte auf der Passivseite ausgeblendet werden.
Transitionsrisiken allein würden die Finanzstabilität nicht gefährden – auch wenn Europas Banken und Versicherer durch den ökologischen Umbau der Wirtschaft und konjunkturelle Schocks größere Verluste erleiden könnten. Zu diesem Ergebnis kommen die Bankenaufsicht EBA, die Versicherungsaufsicht EIOPA, die Wertpapieraufsicht ESMA und die Europäische Zentralbank (EZB) in einem ersten sektorübergreifenden Klimastresstest: „In den untersuchten Szenarien ist es unwahrscheinlich, dass Übergangsrisiken allein die Finanzstabilität gefährden. Wenn jedoch Übergangsrisiken mit makroökonomischen Schocks kombiniert werden, können sie die Verluste für Finanzinstitute erhöhen und zu Störungen führen.“
Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems im Rahmen des „Fit-for-55“-Pakets
Ziel des Stresstests ist es herausfinden, wie widerstandsfähig das Finanzsystem gegenüber Transitionsrisiken ist und inwieweit die Finanzinstitute und Versicherer auch unter Stressbedingungen in der Lage wären, die klimafreundliche Transformation der Wirtschaft zu finanzieren. Für den Test wurden die Annahmen des „Fit for 55“-Pakets zugrunde gelegt, wonach die EU ihre Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 reduzieren und bis 2050 klimaneutral werden will.
Der Fokus liegt auf der Resilienz von Krediten, Aktien, Schuldtiteln (einschließlich Staatsanleihen) und Fondspositionen gegenüber klimabedingten Risiken. Die Analyse umfasst 110 Banken, 2.331 Versicherer, 629 Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (bAV) und rund 22.000 Fonds. Dieser sektorübergreifende Ansatz geht über bisherige Klimastresstests hinaus, indem Ansteckungs- und Zweitrundeneffekte innerhalb des Finanzsystems untersucht werden.
Der Stresstest betrachtet drei unterschiedliche Transitionsszenarien:
- Basisszenario: Basiert auf der Juni 2023-Prognose der EZB für die makroökonomische Entwicklung in der EU unter Berücksichtigung der zusätzlichen Kosten der Transformation.
- Erstes Stressszenario („Run-on-Brown“-Schock): Simuliert einen Vertrauensschock, bei dem Investoren abrupt Kapital aus kohlenstoffintensiven Unternehmen abziehen, wodurch deren Fähigkeit zur Finanzierung nachhaltiger Projekte eingeschränkt wird.
- Zweites Stressszenario: Ergänzt das erste Szenario um weitere makrofinanzielle Schocks, zum Beispiel einen deutlichen Anstieg der Gas- und Kohlenstoffpreise.
Mit Hilfe von Top-down-Modellen konnten die Aufsichtsbehörden die Auswirkungen der Szenarien auf die einzelnen Sektoren des Finanzsystems (Erstrundeneffekte) modellieren und das Potenzial für Ansteckungs- und Verstärkungseffekte im gesamten Finanzsystem (Zweitrundeneffekte) abschätzen. Die Schätzungen basieren auf Daten zu Kredit- und Marktrisiken, Vermögensbeständen sowie Marktschocks und beziehen sich auf einen Zeithorizont von acht Jahren (2022–2030).
Steigende Verluste durch kombinierte Transitions- und Marktrisiken
Die Ergebnisse zeigen, dass es im Basisszenario im gesamten Finanzsystem nur zu geringen Verlusten kommt. In diesem Szenario verzeichnen Versicherer bei ihren Kapitalanlagen einen moderaten Wertverlust von -2,2 Prozent. Im ersten Stressszenario erhöhen sich die Verluste in der Kapitalanlage auf -5,2 Prozent. Die Berücksichtigung von Zweitrundeneffekten erhöht den Wertverluste auf -6,9 Prozent. Nach dem ersten Stresstest stellen Transitionsrisiken isoliert betrachtet keine systemische Gefahr für die Finanzstabilität dar.
Das zweite Stressszenario verstärkt Transitionsrisiken durch makroökonomische Schocks. Die Verluste der Finanzinstitute und Versicherer in der Kapitalanlage steigen hier deutlich an und könnten ihre Fähigkeit, die Transformation zu finanzieren, einschränken. In diesem Szenario summieren sich die Erstrundenverluste im gesamten Finanzsystem auf bis zu -15,8 Prozent. Bezieht man die Zweitrundenverluste mit ein, können die Verluste sogar bis zu -20,7 Prozent betragen. Für Versicherer errechnet das zweite Stressszenario einen starken Rückgang der Kapitalanlagen um -18,8 Prozent (1.285 Mrd. Euro). Zweitrundeneffekten erhöhen die Verluste auf bis zu -23,3 Prozent. Die Kredit- und Marktverluste der Banken betragen im zweiten Stressszenario -10,9 Prozent, ein ähnliches Ergebnis ergibt sich bei Berücksichtigung von Zweitrundeneffekten.
Unvollständiges Bild: Passivseite bleibt im Klimastresstest unberücksichtigt
Allerdings beschränkt sich der Stresstest auf die Kapitalanlagen und lässt damit die Passivseite unberücksichtigt. Dies schränkt die Aussagekraft insbesondere für Versicherer und Pensionskassen ein. So würde ein höheres Zinsniveau die versicherungstechnischen Rückstellungen reduzieren und damit zu Entlastungen auf der Passivseite führen. Weitere entlastende Effekte auf der Passivseite, wie die Anpassung der Überschussbeteiligung und die Volatilitätsanpassung, werden von dem sektorübergreifenden Stresstest nicht berücksichtigt. In einem längeren Abschnitt des Berichtes zur Darstellung des Stresstestes (S. 43 ff.) weisen die Europäischen Aufsichtsbehörden und die EZB auf diese Limitierung hin. Demnach sollten die Ergebnisse vorsichtig interpretiert werden, da sie die tatsächlichen Auswirkungen überschätzen könnten. Der GDV teilt diese Einschätzung.
Neue NGFS-Klimawandelszenarien
Am 5. November 2024 hat das Network for Greening the Financial System (NGFS) ein Update seiner Klimawandelszenarien veröffentlicht. Die aktualisierten „Phase V“-Szenarien basieren auf aktualisierten sozioökonomischen Daten und Modellen und berücksichtigen langfristige wirtschaftliche Folgen des Klimawandels besser als bisher. Die wichtigsten Ergebnisse der NGFS-Szenarien zeigen, dass eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius sofortiges, koordiniertes politisches Handeln und einen grundlegenden wirtschaftlichen Wandel in allen Sektoren erforderte. Unzureichende oder verzögerte Anstrengungen führen am Ende zu deutlich höheren Kosten, wobei sich die prognostizierten BIP-Verluste in einigen Szenarien bis 2050 gegenüber der Vorgängerversion vervierfacht haben.
Versicherer nutzen die NGFS-Szenarien für Klimawandelszenarien im Rahmen ihres Own Risk and Solvency Assessment (ORSA). Der GDV plant, seine Hilfestellung zu „Klimawandelszenarien im ORSA“ vor dem Hintergrund der neuen NGFS-Szenarien zu überarbeiten.
Informationen zu den NGF-Szenarien erhalten Sie hier im geschützten internen GDV-Portal.